14.10.2015

U90

Der Titel verrät es schon, ich habe weiter abgenommen. Am 8.7. konnte ich die magische 100 hinter mir lassen und mein Gewicht war zum ersten Mal... seit ich weiß nicht wann... zweistellig. Die Tatsache hat mich unglaublich motiviert und nun kann ich 3 Monate später stolz verkünden: Ich habe auch die 90 Kilo bereits hinter mir gelassen und befinde mich aktuell bei knapp 88 Kilo. 11 Kilo fehlen noch bis ich einen normalen BMI habe und 18 bis ich mein Zielgewicht erreicht habe. Heute habe ich einige Sachen (unter anderem meine geliebte Winterjacke) in die Änderungschneiderei gebracht. Im Ganzkörperspiegel ist mir wieder bewusst geworden was da, bis jetzt, schon von mir abgefallen ist. Ich sehe zwar die Zahlen auf der Waage und weiß dass ich inzwischen 32 Kilo abgenommen habe, aber mein Kopf will das immer noch nicht realisieren. Ich hatte mich irgendwie damit abgefunden für immer dick zu bleiben weil ich daran eh nichts ändern kann. Nun sehe ich das Ganze anders. Ich habe die Kontrolle über meinen Körper zurück und auch über meine Seele.

Mir ist vor einigen Tagen schmerzlich bewusst geworden woher meine Essproblematik stammt. Ich habe immer gegessen wenn ich unglücklich war. Ich war in meiner Kindheit und frühen Jugend ein normalgewichtiges Kind. Ich habe kürzlich ein Kinderfoto von mir entdeckt auf dem ich erstaunlich schlank war. Wann hat das also angefangen dass ich immer mehr gegessen und zugenommen habe? In meiner Therapie habe ich gelernt zu reflektieren und mit Abstand auf Dinge zurück zu blicken. Der Grund für meine Zunahme ist die Tatsache dass ich mich ab einem gewissen Alter von meiner Mutter abgelehnt gefühlt habe. Ich konnte in meiner Kindheit noch die Sprüche wegwischen dass sie lieber einen Jungen gehabt hätte. Aber spätestens in meiner Pubertät und der fortschreitenden körperlichen Entwicklung meinerseits kamen da wirklich blöde Sprüche. Ey, ich kann nun mal nichts für meine großen Brüste. Ich hätte vielleicht auch lieber kleinere. Aber ich lebe nun mit dem was die Natur mir gegeben hat. Es war nicht richtig wenn ich mich geschminkt habe und über lackierte Fingernägel gab es auch immer was zu lästern. Ich, im Gegenzug, fand es überhaupt nicht schlimm das meine Mutter mit über 40, und trotz mehrerer Kinder, noch Minirock und Pumps getragen hat. Ich war nicht neidisch, ich war stolz auf sie. Ich war stolz eine junggebliebene Mutter zu haben. Eine die locker war und eben nicht so wie andere Mütter. Ich weiß nicht ob sie umgekehrt stolz auf mich war. Ach doch, sie konnte sich damit schmücken dass ich unheimlich gut in der Schule war. Ich kann nichts dafür, lernen ist mir halt schon immer leicht gefallen (hat sich inzwischen etwas geändert). Ich habe mir da nie etwas drauf eingebildet sondern es war mir eher peinlich schnell einen Text lesen zu können und im Vokabeltest selbst ohne lernen eine 1 zu schreiben. Vielleicht habe ich sogar in Teilen ein fotografisches Gedächtnis. Was ich natürlich gehasst habe war der Sportunterricht. Ich war halt unbeweglich und konnte vieles nicht so gut. Da bin ich übrigens das komplette Gegenteil meiner Mutter, die war nämlich in der Schule eine totale Sportskanone. In meiner Pubertät fingen die Gewichtsschwankungen an. Heimlich in Jungs verliebt sein und sich sicher sein dass die eh nix von einem wollen, weil man ja fett ist. Aus Frust darüber weiter essen und weiter zunehmen. Und von meiner Mutter kamen dann Sprüche wie: "Ich würde die eh nie sagen welcher deiner Schulkameraden dich toll findet, dann würdest du noch eingebildet werden". Nein, einfach nein Mama, ich habe mir da nichts drauf eingebildet. Meiner Mutter war es immer wichtig wie sie auf Männer wirkt, mir nicht. Ich war schon immer eher die burschikose und wahnsinnig still (das änderte sich erst im Studium). Ich war unglücklich und habe also immer mehr gegessen. Mit 15 war ich in einer Phase in der ich jeden Tag sterben wollte. Ich habe mehrfach überlegt mich umzubringen, weil ich ja eh nix wert bin. Dann wollte ich das Abitur schmeißen weil ich einfach kein Bock mehr auf die Schule hatte. Kein Bock auf gar nix mehr. Vor allen Dingen kein Bock mehr auf funktionieren. In der Schule habe ich mich Lehrern anvertraut und bekam die Nummer eines Psychologens. Allerdings hatte ich zu viel Angst dort anzurufen und hinzugehen. Wie sieht das denn aus? Wo doch bei uns zu Hause alles immer in Ordnung ist. Tolle Mutter, vorbildliche Kinder. Tatsache ist, ich habe ein 3,4 Abi gemacht. Mein Durchschnitt nach der 10 lag bei 1, irgendwas. Wenn ich heute nochmal zurück könnte, würde ich meinem 15jährigen Ich raten den Psychologen anzurufen und keine Angst zu haben. Und von Zuhause wegzugehen. Es ist nicht schlimm sich Hilfe zu suchen. Ich habe einfach weiter ausgehalten. Und gegessen. Habe es ausgehalten dass meine Mutter morgens in mein Zimmer kommt und mich, weil sie denkt ich schlafe, als 'Arschloch' betitelt und noch ganz andere Demütigungen. Habe alles viel zu lange ausgehalten. Bin Ewigkeiten Zuhause wohnen geblieben weil ich es bequem fand um dann, nach meinem Auszug, festzustellen wie befreiend es ist alleine zu sein. Ich habe einfach weitergemacht, bin dicker geworden, habe mehr gegessen, dann mal wieder abgenommen aber weniger als 95 Kilo sind es nicht geworden.
Bis ich im Mai 2012 festgestellt habe dass ich nicht mehr so weitermachen kann. Ich stand kurz vor einem Zusammenbruch. Ich entschied mich endlich das Thema Therapie in Angriff zu nehmen. Gespräch darüber mit meiner Mutter, ihr Kommentar: 'Nicht dass du dann auch nicht mehr mit mir sprichst'. Ach Mama ey, du merkst einfach nix mehr. Du wirfst mir lieber Sätze an den Kopf wie: 'Du hast doch dein Leben sowieso vepfuscht'.

Meine Therapie war geprägt vom Thema Abhängigkeiten, erst gab ich das Rauchen auf, dann folgte ein erstes Heilfasten für eine symbolische Reinigung. Die Abhängigkeit zu einem Mann zu kappen sollte mich noch viel mehr Zeit kosten (das ist hier an anderer Stelle nachzulesen). Ich wurde wieder Vegetarierin (was Zuhause mit 18 soooo problematisch war) und nahm innerhalb von einigen Wochen 15 Kilo ab. Mein Körper war so sauber dass mein ganzes Essverhalten sich änderte. Aber auf dem Gewicht blieb ich dann stehen. Und nahm vor Weihnachten wieder zu. Auf 110 Kilo. Quälte mich mit Knieschmerzen. Aber fing wieder mit Pilates an.

Interessanterweise hat meine Mutter in den letzten Jahren unglaublich viel zugenommen. Darüber habe ich aber nie irgendeinen blöden Spruch gerissen. Ich weiß wie schmerzhaft Bewertungen durch Menschen sind und versuche diese so gut es geht zu vermeiden.

Geändert hat sich alles in diesem Jahr als ich durch die liebe Robin Urban auf das Buch von erzählmirnix gestoßen bin. Plötzlich lernte ich wie abnehmen funktioniert und dass ich eben nicht dazu verdammt bin dick zu bleiben. Nachdem ich das Buch in einer Nacht durchgelesen habe, mußte ich mir selbst vor Augen führen was ich da eigentlich wirklich in mich reinstopfe und warum! Und ich habe noch etwas viel elementareres erkannt: Ich kann meine Mutter nicht mehr für mein Gewicht und mein Eßverhalten verantwortlich machen. Und für all die Dinge die sie getan hat.

Ich bin erwachsen und muß für meine Handlungen selber Verantwortung übernehmen. Ich muß akzeptieren das ich nicht das Kind bin welches meine Mutter wollte. Ob sie die Mutter ist die ich wollte, hat sie übrigens nie gefragt. Ich habe so oft in meinem Leben allen Menschen vorgespielt dass ich total glücklich bin so wie ich bin. Dass ich eine total tolle Mutter habe (und nein, natürlich war sie nicht nur schlecht) die unfehlbar ist. Ich habe keinen Bock mehr zu lügen oder Fassaden aufrecht zu halten. Und ganz bestimmt keinen Bock mehr diesen von Unglücklichsein geprägten Körper mit mir rumzuschleppen. Es ist Zeit endlich die hervorzubringen die ich all die Jahre versteckt habe. Und der Akzeptanz meiner Mutter eben nicht mehr hinterher zu rennen. Ein Highlight noch zum Schluß. Als ich kürzlich nachts blöd angelabert wurde, sagte meine Mutter nur: 'Kind, du bist jetzt attraktiv'. Was soll man darauf noch sagen? Tatsache ist, mein Freund hat sich in mich verliebt da wog ich 110 Kilo. Er liebt mich immer noch und er wird mich auch mit dem Zielgewicht von 70 Kilo lieben. Und ich liebe mich. Jeden Tag ein bißchen mehr.

6 Kommentare:

  1. Das ist wirklich erst ganz schon krass und dann wirklich schön zu lesen. Mach weiter so.

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    1. Ich weiß dass das sehr krass ist. Es war auch nochmal wirklich emotional das aufzuschreiben

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  2. du bist mir sehr sympathisch :)

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  3. Wow, das zu lesen war heftig, weil ich vieles wieder erkannt habe... glücklicherweise ging mein Gewicht nie über die 85kg, aber auch das war zu viel und die Sprüche meiner Mutter damals... doch, deine Beschreibungen deiner Mutter... meine sagte mal "im Scherz" sie habe immer x+1 Jungen gewollt und nach x Mädchen aufgegeben...
    Ich freue mich sehr, dass du dich da langsam lösen konntest und ich wünsche dir noch weiterhin sehr viel Erfolg und Freude in deinem Leben :).

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    1. Ach ja, meine Mutter. Ich frage mich manchmal warum ich überhaupt noch mit ihr spreche. Ich habe die Hoffnung aufgegeben das sie sich mal ändert oder etwas merkt. Der Lösungsprozeß ist in Arbeit, aber noch längst nicht beendet. Erfolg kann ich gut gebrauchen, Freude aber noch viel viel mehr. Danke für deinen lieben Kommentar :)

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